Mitgefühl und Trost

Gedanken einer Asperger-Autistin über die Schwierigkeiten, zu trösten und getröstet zu werden 

Um Trost spenden zu können, ist es im Vorfeld notwendig, überhaupt zu erkennen, dass ein Mensch traurig ist und Zuspruch braucht. Für Menschen, die Probleme mit der Empathie haben, stellt das schon eine sehr große Herausforderung dar.
Für mich geht nur in ganz wenigen Fällen offensichtlich aus einer Situation hervor, dass dort ein Mensch ist, der Trost benötigt. Das ist immer dann gegeben, wenn ein Mensch weint und dies anhand von Tränen sichtbar oder von mir – bedingt durch ein lautes Schluchzen – akustisch wahrgenommen werden kann.
Überwiegend aber habe ich enorme Schwierigkeiten damit, Gefühle meiner Mitmenschen in ihren Gesichtern abzulesen. So bleibt mir nur die Möglichkeit, Gefühle mit Logik aus dem Kontext eines Ereignisses heraus zu interpretieren.
Doch was geschieht, wenn ich erkannt habe, dass ein Mensch traurig ist?
Ich habe gelernt, dass man in einem solchen Fall diesen Menschen tröstet, aber es fällt mir schwer, entsprechend der Situation, angemessen zu handeln.

Hier ein Beispiel:

Im Rahmen der Durchführung der Diagnostischen Beobachtungsskala für Autistische Störungen (ADOS) im Autismus-Therapie-Zentrum wurden meinem Sohn Bilder gezeigt, die unterschiedliche soziale Situationen zeigten. Unter anderem gab es dort ein Foto, auf dem ein Mädchen mit einem traurigen Gesicht abgebildet war, das offensichtlich mit einem Fahrrad gestürzt war, welches man im Hintergrund sehen konnte.
Mein Sohn erfasste die Situation genau und konnte die Frage, was er denn mit dem Mädchen machen würde, auch entsprechend beantworten. Auf die Nachfrage, wie er das Mädchen denn trösten würde, sagte er, dass er das Fahrrad – welches er als Verursacher der Schmerzen und der damit ausgelösten Traurigkeit sah – verbrennen würde.

Während des nachfolgenden Auswertungsgesprächs wurde auch mir dieses Bild vorgelegt mit der Bitte, es zu beschreiben. Da die Situation eindeutig war, fiel es mir nicht schwer, sie richtig zu erfassen und auf die Frage nach meiner Reaktion zu antworten, dass ich das Mädchen trösten würde.

Erst später, in der Reflexion des Gesprächs, setzte ich mich konkret damit auseinander, wie ich denn in einer, dem Bild entsprechenden Situation, tatsächlich gehandelt und wie ich das Mädchen getröstet hätte und kam zu folgenden Lösungsmöglichkeiten:

  • Es liegt keine Verletzung aufgrund des Sturzes vor. Mir ist nicht klar, warum das Mädchen auf dem Boden sitzt und weint.
    In diesem Fall gehe ich vermutlich vorbei, ohne zu helfen, auch, weil ich das laute Schluchzen, bedingt durch meine Geräuschempfindlichkeit, als störend empfinde. Oder ich bleibe kurz stehen und bitte das Kind mit dem Schluchzen aufzuhören und aufzustehen, weil es für sein Verhalten keinen Grund gibt.
  • Das Kind ist aufgrund des Sturzes sichtbar leicht verletzt. Vermutlich hat es Schmerzen, weil es weint und möchte getröstet werden.
    Hier halte ich nach der Mutter des Kindes Ausschau oder nach einer Person, die sich um das Kind kümmert und untersuche das Fahrrad auf mögliche Schäden hin.
    Sollte niemand in der Nähe sein, frage ich das Kind selbstverständlich nach seinen Schmerzen und schaue nach eventuellen Verletzungen, um diese zu versorgen oder – wenn nötig – entsprechende Hilfe anzufordern.
    Trost kann ich – mit Ausnahme bei meinem Sohn – allerdings nur mit Worten spenden – ein fremdes Kind tröstend in den Arm zu nehmen oder zu streicheln, ist mir nicht möglich.
    Folglich bin ich in einer solche Situation sehr verunsichert.

In den vielen Jahren vor meiner Diagnose habe ich mir immer die Frage gestellt, warum ich unfähig bin, einen Menschen zu trösten und damit das zu tun, was von mir erwartet wird und anderen selbstverständlich ist. Um mit der Problematik nicht konfrontiert zu werden, versuchte ich, solchen Situationen möglichst aus dem Weg zu gehen.

Heute weiß ich den Grund dafür, kann darüber sprechen und meinem sozialen Umfeld im Bedarfsfall mein in ihren Augen distanziertes Verhalten erklären, um Missverständnissen entgegenzuwirken. Denn ich bin ein sehr hilfsbereiter Mensch, der lediglich Probleme mit dem Einfühlungsvermögen und dem Trösten durch Körperkontakt hat. Meine Hilfe ist eher pragmatisch.

Im umgekehrten Fall habe ich auch Probleme damit, getröstet zu werden.
Es gibt nur wenige Menschen, bei denen ich körperliche Nähe als Ausdruck von Trost überhaupt zulassen kann. Ich ziehe fast immer eine lösungsorientierte Unterstützung vor.
Zudem wird mein soziales Umfeld in den meisten Fällen gar nicht mitbekommen, wenn ich traurig bin, da ich nur bei Überforderung weine oder eine ähnliche, emotionale Reaktion zeige. Wenn ich traurig bin, ziehe ich mich in der Regel in mich zurück und möchte nicht darüber sprechen, weil ich mit dem Gefühl überfordert bin und es nicht erklären kann. Die Tatsache, dass andere Menschen mit mir fühlen können, ist mir befremdlich. Wie kann jemand etwas fühlen, das ich selber nicht begreifen und beschreiben kann?

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